Für gläubige Italiener ist Ostern das wichtigste Fest des Jahres. Fast überall finden Prozessionen statt.
Die Pietà (italienisch für „Frömmigkeit, Mitleid“) ist die Darstellung Marias als Mater Dolorosa (Schmerzensmutter) mit dem Leichnam des vom Kreuz genommenen Christus. Im Gegensatz zur Beweinung Christi liegt der Leichnam Jesu immer in Marias Schoß. Das Bild der Pietà ( Mitleid) entsprang spirituellen Entwicklungen des Mittelalters. Die Gläubigen sollten sich vorstellten, an Ereignissen der Heilsgeschichte teilzunehmen und mitzuleiden.
Via crucis - Kreuzweg ( Prozessionsweg)
Diese Osteranekdote habe ich vor einigen Jahren in Apulien erlebt:
„Glaubst du eigentlich an Gott?“ habe ich Paolo gefragt. „ Ich war lange nicht mehr in der Kirche.“ War seine ausweichende Antwort.
Um so erstaunter war ich, als er bei meinem Besuch in Apulien einige Wochen vor Ostern plötzlich aufsprang und meinte. „Ich habe die Proben für den Kreuzweg vergessen. Ich muss los. Kommst du mit?“
Natürlich wollte ich mit. Auf dem kleinen Marktplatz hatte sich schon eine Gruppe von vielleicht 30-40 Personen eingefunden, die meisten Männer im Alter von 20-40 Jahren. Ein Mann mit einem Megaphon las einen Bibeltext vor und gab Anweisungen, wer sich wo aufzustellen und welche Gesten zu machen hatte. Einige Zuschauer standen am Rand und kicherten, andere nahmen das allerdings sehr ernst.
Es stellte sich heraus, dass Paolo den mit Jesus gekreuzigten Dieb darstellen sollte und zwar nicht hier in seinem Heimatdorf, sondern in der Nähe von Matera. Das war eine Art Boykott gegen den hiesigen Pfarrer, der sich nicht genug um die Jugend und die Sportplätze kümmerte, erklärte er mir.
Ich war von der Szenerie ziemlich verwirrt. Am nächsten Tag scherzte Paolo, er werde in Matera in seinem Kostüm in eine Cafebar gehen und sagen: „Einen Caffe für mich und Jesus, bitte!“ Darüber musste ich lachen, aber als er mir später sehr realistisch wirkende Fotos der Kreuzigung schickte, fand ich das berührend und unheimlich zugleich.
Settimana Santa in Taranto
Die Feierlichkeiten in Taranto gehören mit zu den bekanntesten in Apulien. Unter der Überschrift „Settiman Santa“ schreibt ein deutscher Reiseführer:
"Auch in Apulien triftt man in der Karwoche auf düstere Riten, fühlt sich ins Mittelalter versetzt, als der Katholizismus noch mehr Angst und Schrecken als Milde und Wohltat verbreitete. In Taranto tragen die Einheimischen bei drei großen, sich über Stunden hinwegziehenden Prozessionen spitze Kapuzen mit Sehschlitzen. Ku Klux Klan made in Italy.“
(Ich habe den Dumont- Verlag übrigens auf die unglückliche Formulierung hingewiesen und bekam eine automatisierte Antwort, meine Anfrage würde sobald wie möglich beantwortet. Das ist inzwischen elf Monate her.)
Die Karwoche in Taranto beginnt am Palmsonntag, an dem das Recht, die Statuen zu tragen, versteigert wird. Sie erreicht ihren Höhepunkt während der Prozession der Addolorata (Schmerzensmutter) und der Prozession der Freitagsmysterien. Am frühen Donnerstag morgen beginnt die Wallfahrt der Bruderschaft del Carmine zu den Altären der Reposition. Paarweise, mit nackten Füßen, Kapuzen und langen Stöcken machen die Teilnehmer Halt an den Kirchen entlang der Strecke. Die Kapuzenträger symbolisieren Büßer, die, wie die Pilger nach Rom, auf der Suche nach Gottes Vergebung sind. Diese Prozessionen sind von unglaubicher Langsamkeit. Für einen Kilometer werden mehrere Stunden benötigt.
Die Osterrituale in Taranto haben ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und wurden von den Spaniern, genauer den Aragonen, mitgebracht, die zu dieser Zeit Apulien beherrschten.
Auch bei der Settiman Santa in Sevilla werden noch heute diese Kapuzen getragen. Ein Blogger, der über diese Prozession in Spanien schrieb, fühlte sich angesichts der Teilnehmer an eine Herde Schafte erinnert. Wozu diese Überheblichkeit?
Trotz intensiver Internetrecherche konnte ich zunächst nicht herausfinden, warum diese Kapuzen getragen werden. Die Antwort ist einfacher als man denkt. Ich erfahre sie ein paar Wochen später von unserer Gastgeberin in Taranto: "Es sind auch Menschen dabei, die im Gefägnis waren oder bei der Mafia. Sie wollen anonym bleiben. Das Recht, die Statue zu tragen, kostete den Büßer dieses Jahr 40 Tausend Euro."
Mit dem rassistischen, gewalttätigen und antikatholischen Ku Klux Klan hat die Prozession in Taranto außer den Kapuzen sicher nichts gemeinsam. Was daran befremdlich erscheint, ist vielleicht das Verstecken des Gesichts und die Tatsache, dass wir die Symbole nicht verstehen. Wir denken vielleicht auch an die Kreuzzüge im Mittelalter, an Hexenverbrennung und andere Gewalttaten im Namen Gottes.
Passionsspiele und Prozessionen gibt es auch in Bayern und anderen katholischen Regionen Deutschlands, wobei aber niemand auf die Idee kommen würde, die Bevölkerung deshalb als ungebildet oder
eine Herde Schafe zu bezeichnen. Der Süden Italiens, seine Religiösität und seine archaischen Riten werden dagegen oft mit Düsternis und Rückständigkeit gleichgesetzt. In europäischer und italienischer Reiseliteratur wurde nicht selten die Überzeugung verbreitet, der Süden sei rückständig,
archaisch, primitiv und hätte kulturell, sozial, politisch und anthropologisch mehr Ähnlichkeit mit dem Nahen Orient oder Afrika als mit Europa.
Cultura dolorum: pflegender Umgang mit Schmerz
In der Antike bedeutete Kultur so viel wie ein pflegender Umgang mit etwas, von dem der Mensch hoffte, dass es wächst ohne, dass er dabei alle Faktoren kontrollieren kann. Daher beinhaltete die antike Kultur Akte der Verehrung, des Bittens, Betens und Hoffens. Agrikultur bedeutete kultivierender Umgang mit Land und Boden. Cultura animi war der übende Umgang mit den Geistesfähigkeiten (Philosophie). Cultura dolorum war eine Kultur der Schmerzen, des Leidens, der Erlösung.
Im 17. Jahrhundert wird Kultur gleichbedeutend mit Zivilisation. Der Mensch fühlt sich nicht mehr an die Notwendigkeiten der Natur gebunden; er nimmt sein Schicksal selbst in der Hand. Die Ideale der Aufklärung waren Vernunft, Hinwendung zu den Naturwissenschaften, Emanzipation, Bildung, Toleranz auch gegenüber den Religionen. Allerdings wächst die Skepsis gegenüber allem Irrationalen: den Gefühlen und dem Umgang und Ausdruck von Trauer. Das Ideal des Bürgertums war eine mit Würde und Ruhe vorgetragene Trauer, wie Melancholie und sanfte Elegie. Gefühle wurden verinnerlicht und nicht durch pathetische Gesten oder Mimik nach außen getragen. Trauer, Leid und Tod werden mehr und mehr eine Privatangelegnheit.
„Das echte Apulien ist das archaische, nicht rückständig, aber althergebracht.“
Mit diesem Zitat des Kunsthistorikers Cesare Brandi wirbt die Webseite „ Puglia autentica“ (Authentisches Apulien) , eine Seite für Tourismus und Kultur, und erklärt:
"In Apulien sind die Ereignisse, die mit der Settimana Santa in Verbindung stehen, immer ein Bezugspunkt für Gemeinschaftlichkeit im Sinne von Teilnahme, emotionaler Mitwirkung und Ergiffenheit gewesen. Vom Gargano bis ans Ionische Meer - suggestive Reisewege, wo das Mysterienspiel, der Anblick der Kapuzenträger, religiöse Klänge und Gesänge dich einhüllen und begleiten in eine Atmosphäre intensiver emotionaler und sensorischer Teilnahme, wo die einzigartigen Gerüche des Meeres und der Erde sich mischen mit den althergebrachten Düften der traditionellen apulischen Enogastronomie."
Canto della Desolata in Canossa
In den letzten Jahren ist die Prozession der Maria Desolata in Canossa zu einem viel beachteten Ereignis geworden. Videos und fotografische Reportagen, Presseartikel, Gedichte, Kalender dokumentieren die Tradition, die von noch intakten Riten und Bräuchen erzählen und zum historischen, sozialen und kulturellen Erbe von Canosa bereichern. Hundert schwarz gekleidete Frauen, das Gesicht verdeckt von einem schwarzen Schleier, bewegen sich untergehakt durch die Straßen von Canossa und singen eine bombastische, aber gleichzeitig traurige Hymne: es ist die Hymne der Verlassenen, Stava Maria Dolente. Die Verschleierung des Gesichts dient auch der Darstellung des Schreis der Mutter des gekreuzigten Jesus.
Quaresima - 40 Tage Fastenzeit
Das italienische Wort für Fastenzeit quaresima erinnert etymologisch noch die Zahl 40 quaranta. Ebenso übrigens wie das Wort „Quarantäne“ quarantena . Die Reisesperre für seuchenverdächtige Schiffe bezeichnete man in Italien als quaranta giorni (vierzig Tage).
Die Fastenzeit erinnert an die 40 Jahre der Israeliten in der Wüste sowie an die 40 Tage, die Jesus in der Wüste fastete und betete. Ein möglicher Ursprung der 40 tägigen Fastenzeit quaresima in Süditalien, das lange zu Großgriechenland gehörte, liegt im vorchristlichen Mythos um die vor Schmerz und Wut rasende Göttin Demeter. 40 Tage lang suchte Demeter, Göttin des Korns und der Fruchtbarkeit, ihre ins Totenreich entführte Tochter Persephone und ließ alles Leben auf der Erde sterben.
Mythenforscher erkennen in dieser Geschichte den Zyklus der Jahreszeiten und des Lebens. In Süditalien sind die Bräuche beim Übergang vom Winter zum Frühjahr, die mit Tod, Fruchtbarkeit und Wiedergeburt in Verbindung stehen teilweise noch lebendig. Daran erinnern in manchen Orten lebensgroße, schwarz gekleidete Puppen, die im Freien aufgehängt werden. Ich habe diese Puppen in der Fastenzeit in Locorotondo gesehen, wußte aber damals nicht, was sie bedeuten.
Ostern ist das Fest der Auferstehung Jesu Christi. Mit dem Ostersonntag beginnt die österliche Freudenzeit, die fünfzig Tage bis einschließlich Pfingsten dauert.
Pasquetta, das kleine Ostern, wird in Italien der Ostermontag genannt.Traditionell endet das Osterfest an diesem Tag mit einem Ausflug ins Grüne.
Noli me tangere
Die Wendung noli me tangere ist in der lateinischen Übersetzung des Johannesevangeliums der an Maria Magdalena gerichtete Ausspruch von Jesus nach seiner Auferstehung und heißt übersetzt „Berühre mich nicht“. Andere übersetzen es mit "Halt mich nicht fest". Auf Maria Magdalenas Versuch, Jesus nach seiner Auferstehung zu küssen oder zu umarmen, reagiert Jesus mit diesem Ausspruch und begründet sein Verbot damit, er sei noch nicht zum Vater aufgefahren.
Es gibt eine Geschichte von D.H. Lawrence " Gute Geister", in der sich Lawrence auf diesen Ausspruch von Jesus bezieht. " Wie grausig für Jesus, als er auferstand und nicht berührbar war! Wie furchtbar, wenn man sagen muss: Noli me tangere !"
Ist das nicht auch eine tragische Paralelle zwischen der Ostergeschichte nach Johannes und dem Kontaktverbot der Coronakrise.
Hier eine Miniatur der Passionsgeschichte. Ich finde das kleine Video aus Calabrien sehr bewegend.
Osterprozessionen in anderen Orten
Processione dei Misteri Bari: 14 Stunden dauert die Prozession am Karfreitag und genau genommen gibt es eigentlich zwei Karprozessionen, die seit Jahrhunderten miteinander rivalisieren. In den geraden Jahren wird die Prozession von der "Pia assoziazione dei misteri Vallisa" und den ungeraden von "Pia assoziazione dei misteri San Gregorio" durchgeführt. Früher war es noch schlimmer: die Gläubigen verließen gemeinsam die Kirche, dann trennten sich ihre Wege, wobei es nicht selten zu gegenseitigen Beschimpfungen kam.
La Processione dei Crociferi in Noicattaro ( kleiner Ort unweit von Bari)
An Gründonnerstag tragen auch hier in schwarze Kutten mit Kapuzen gekleidete Büßer
über 100 Kreuze durch die Straßen, barfuß, einen Dornenkranz auf dem Kopf.
Karprozessionen finden z.B. auch in Ruvo di Puglia, in Bitonto und in San Marco in Lamis ( Flammenprozession) statt.
Auf der Unterseite "settimana santa in puglia" findet ihr unterschiedliche Angaben dazu, ob 2021 Prozessionen stattfinden.
-> Kalender der Veranstaltungen 2021 ( hier sind einige für 2021 aufgelistet)
( hier steht: Prozessionen sind abgesagt)
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Eine andere Sicht auf das Mittelalter findet ihr auch in diesem Artikel des Blogs "Guardian of the Blind."