Mare mosso - Das Meer in mir

 

Das Meer als Spiegel der Seele. "Aber das Meer ist wie die Seele und nie still, selbt wenn alles schweigt."

 

September 2020
September 2020

 

 

Geschafft! Endlich hier. Im März hat wohl kaum jemand daran geglaubt, einen halbwegs normalen Urlaub im Süden machen zu können. Auch ich nicht. Aber jetzt bin ich wirklich da. Um den Augenblick zu beschreiben, kritzle ich in mein Tagebuch, was ich höre, rieche, fühle: Lachen, Plantschen, leichter Wind, Wellen, winzige Fische, der Duft von Pinien, spielen, unbeschwert sein, Atmen ohne Angst, Freude, Leben.

 

Ich liebe es in den Felsspalten nach Krebsen, Muscheln und anderem Meeresgetier zu suchen. Wennn Kalkstein erodiert enststehen viele kleine Risse, Hohlräume und Höhlen. Kalkstein besteht meist aus toten Meeresorganismen, die vor Zigtausenden von Jahren im Meer starben und sich zusammengepresst auf dem Boden ablagern. Die kleinen Fischschwärme, die man vom Ufer aus sieht, erinnern mich mit ihren synchronen Bewegungen an ein Wasserballet. Eidechsen flitzen umher und eine verharrt reglos auf einer Ecke meines Strandtuches. Die Felsblumen, die aus jeder Ritze wachsen zittern leicht im Wind. All die unterschiedlichen Töne von Blau im Wasser, die Farben der Felsen, die sich je nach Sonnenstand verändern und abends immer wärmer werden. Das ist meine Landschaft. Manche ruft der Berg. Mich ruft das Meer.

 

Mare mosso - raue See

 

Ein paar Tage später am gleichen Ort stelle ich überrascht fest:  Das Meer tröstet mich nicht. Ich fühle mich plötzlich einsam und traurig. Das kann passieren, wenn man allein reist. Wenn ich mich in Berlin allein fühle, ist das halt so. Halb so wild, es geht vorbei. Aber hier - umgeben von all der Schönheit - die ich mit niemand teilen kann, fühlt es sich plötzlich dramatisch an. Es tut doppelt weh und vielleicht liegt es daran, dass das Meer wie ein Gefühlsverstärker oder ein Spiegel der Seele ist. "Zum Meer, wo der Mensch sich wiederfindet, wie in einem Spiegel." Ich glaube, Herman Melville schrieb das in Moby Dick.

 

 

In den folgenden Tagen muss ich oft an dieses Zitat denken, denn tatsächlich kommt es mir vor, als würde das Meer meine inneren Gefühle widerspiegeln. Die Wellen werden jeden Tag ein bisschen höher und an manchen Stränden wird es schwierig, eine Stelle zu finden, wo ich ins Wasser gehen kann. "Mare mosso" ist der italienische Ausdruck für "raue See".

 

In Polignano, einem kleinen Küstenort, hatte vor einigen Jahren jemand einen Spruch von Walter Benjamin an die Wand geschreiben: " Es gibt nichts Epischeres als das Meer". Das ganze Zitat geht dann so weiter: "Das Dasein ist im Sinne der Epik ein Meer. Es gibt nichts Epischeres als das Meer. Man kann sich natürlich zum Meer sehr verschieden verhalten. Zum Beispiel an den Strand legen, der Brandung zuhören und die Muscheln, die sie anspült, sammeln. Das tut der Epiker. Man kann das Meer auch befahren. Zu vielen Zwecken und zwecklos. Man kann eine Meerfahrt machen und dann dort draußen, ringsum kein Landstrich, Meer und Himmel, kreuzen. Das tut der Romancier. Er ist der wirklich Einsame, Stumme. Der epische Mensch ruht nur aus. Im Epos ruht das Volk nach dem Tagwerk; lauscht, träumt und sammelt."

 

Immer wenn ich nach Polignano komme, suche ich nach dieser Wand, aber ich finde sie nicht mehr. In Polignano und Monopoli fühle ich mich bei dieser Reise nicht wirklich wohl, weil auch draussen viele Menschen mit Maske rumlaufen. Plötzlich sind die engen Gassen der Altstädte, die ich so liebe, zu eng. Ich zucke jedesmal zusammen, wenn mir jemand mit Maske begegnet. Ich kann nichts dagegen machen. Eine Frau kommt sogar mit Maske an den Strand. Die Angst liegt wieder in der Luft, ich spüre das an belebten Orten ganz deutlich, schnappe immer wieder das Wort covid auf und es tut mir in der Seele weh.

 

Die Fotos von meinen Strandspaziergängen, denke ich im Nachhinein, erzählen ohne Worte von meiner Unruhe, vom nahen Ende des Sommers, meiner Traurigkeit, einer gewissen Leere und meiner Angst, dass das meine letzte Reise nach Apulien gewesen sein könnte.

 

 

Das ist ein Traualtar. Apulien ist sehr beliebt bei Paaren, die heiraten möchten. Ob die Hochzeit hier schon vorbei ist oder die Stühle noch auf Gäste warten, weiß ich nicht. Auch die Bühne nebenan ist leer.

 

 

Auf dem Rückweg dieses Strandspaziergangs ist der ( analoge ) Film voll und ich muss auf s/w wechseln, weil Buntfilme ausverkauft waren. Die Trauung ist jetzt scheinbar vollzogen. Die Gäste feiern im Strandclub gegenüber. Alle Kellner mit Maske. Ein seltsames Bild.  Auf der Holzbühne sehe ich jetzt einen Mann und eine Frau gemeinsam angeln.

 

 

Es dämmert schon. Ich habe heute an diesem Felsstrand keine Stelle gefunden, wo ich ins Wasser konnte. Der nächste Tag wird noch stürmischer und es ist der letzte Tag meiner Reise. Am Flughafen sehe ich eine Mann, auf dessen Maske steht: "Ma voglio buttare un grido." ( "Ich möchte eigentlich schreien.")

 

P.S.:

 

Postskriptum über die Träume, welche in der Liebe nisten: Das Meer ruht an meiner Seite. Schon lange teilt es meine Ängste, Unsicherheiten und viele meiner Träume, aber jetzt schläft es mit mir in der warmen Nacht der Selva. Im Traum sehe ich vor mir das Meer wogen wie ein Kornfeld, und ich staune wieder einmal darüber, es unverändert wie immer zu empfinden, lauwarm, frisch, an meiner Seite. Die Atemnot treibt mich aus dem Bett, ich muß zur Feder greifen, um den alten Antonio heraufzubeschwören, heute wie schon seit vielen Jahren. (-> Zitat aus einem Artikel von SUBCOMANDANTE MARCOS in Le monde diplomatique 1997)

 

 Noch ein P.S.  (2024)

Ich habe ein bißchen gelogen. Die Wahrheit ist, dass ich gar nicht allein in Apulien war, sondern zusammen mit meinem apulischen Freund und dass ich zu ihm gesagt habe: " Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, draussen Masken zu tragen." Das war der Anfang vom Ende.  Ich war dann noch einmal in Apulien im Sommer 2023. Es war der Horror: Kontatktlos reisen ist jetzt der Trend.