Der böse Blick und andere magische Rituale

 

Der Glaube an den bösen Blick ( mallochio = böses Auge) ist in Italien allgemein und auch in Apulien noch weit verbreitet. Es ist ein Volksglaube, der dem Blick eines Menschen negative Kräfte zuschreibt, weil er Unglück über die Person bringt, auf die sich der Blick richtet. Er kann aber einer geliebten Person auch als Schutz dienen.

„Zwei Augen haben dich angeschaut, vier Augen werden das Böse überwinden.“ schon bei den Mesopotamiern gab es Sprüche wie diesen.

 

Der böse Blick entsteht, so sagt man, vor allem durch Gefühle wie Neid, die negative Effekte auf den ganzen Körper ausüben, welcher dann schädliche Ausdünstungen entwickelt, die aus den Augen austreten.

 

Abwehr und Heilung des bösen Blicks

Symptome der vom bösen Blick Besessenen sind: verdrehte Augen, Schweißausbrüche, Spucken, Wut, Schläfrigkeit, der Zwang, sich zu übergeben und das Sprechen mit den Zungen anderer Menschen. Zur Abwehr des bösen Blicks, so glauben viele Italiener, helfen:

 - Amulette, das Berühren eines Gegenstands aus Metall oder Holz sowie das Berühren der Genitalien ( habe ich nur bei Männern gesehen),

 - das Tragen eines Korallenhorns, eines Heiligenbildchens oder einer Kette mit Kreuz

 - die gehörnte Hand ( mano cornuta), eine vulgäre Geste, die verschiedene Bedeutungen hat und z.B. auch in der Metalszene benutzt wird.

 

In Andrea de Jorros "Lexikon der stummen Eloquenz" befassen sich 20 Seiten allein mit dem auch erotisch bedeutungsvollen Zeichen der corna ( Hörner ) und dem weiblichen pendant der fica ( Feige ).

 

Eine masciàre ist eine Heilerin, die in Apulien noch heute aufgesucht wird, wenn eine Person vom bösen Blick befallen ist. Den Ursprung des Wortes masciare führt Giovanni Battista Bronzini auf Megäre ( die Missgönnende) zurück, eine Rachegöttin der Antike. In der bäuerlich geprägten Gesellschaft Süditaliens war Besitz ein Tabu und die besitzende Klasse wurde nicht beneidet, man war mitunter sogar stolz, nicht zu ihr zu gehören. Besitzgier galt als boshaft, übermäßiger Reichtum und Egoismus wurden bestraft.

 

Zu den Mitteln der Heilkunst der masciare gehörten Ablecken, Anfassen, der Fluss von Speichel und Tränen. Der Ethnologe Thomas Hausschild betont, dass dieser Akt des Heilens ursprünglich ein Akt körperlichen Mitleidens war. Die Heilerinnen schwitzten, spuckten und weinten mit ihren Kunden. Sie gerieten dabei in den Zustand einer kontrollierten Trance, indem sie sich mit dem Zustand der Patienten identifizierten und den bösen Zauber so auf sich nahmen. Diese Art des Heilens beruht auf einem christlichen und magischen Verständnis des Körpers. Der Körper ist kein fester Behälter, sondern durchlässig. Die Grenzen zwischen den Körpern sind fließend, so wie Christen auch in der Messe zu einem großen Körper Christi vereinigen.

 

Dieses Video zeigt die Heilung des bösen Blicks wie sie noch heute von den masciare in Süditalien durchgeführt wird. Ein Öltropfen wird in einen Teller oder eine Schale mit Wasser gegeben. Wenn das Öl große Kreise bildet, bedeutet das dass der Kunde vom bösen Blick befallen ist. Zwei Streichhölzer werden abgebrannt und in Form eines Kreuzes in die Flüssigkeit gelegt. Der Inhalt der Schale kann auch vor das Haus gekippt werden und wer als nächstes vorbei kommt, nimmt den bösen Blick mit. Der Patient ist dann davon befreit.Auch bei der "zivilisierten" Form der Heilung wird der Gefühlsüberschwang ( zuviel Neid) in Form von Flüssigkeiten hin und hergeschoben, so Hausschild. Magie besteht in der Vermischung von Substanzen, mit der eine neue Ordnung der Dinge geschaffen wird.

 

Dieses Video aus Ischitella in der Nähe von Foggia zeigt wie es geht.

Togliere il malocchio a Ischitella (Fg)

 

Da das Video des Fernsehsenders Rai einen leicht ironischen Unterton hat, finde ich die Kommentare, die darunter gepostet wurden ganz interessant. Glaubt die jüngere Generation auch noch an den bösen Blick? Wärend sich einige darüber lustig machen, bitten andere um mehr Respekt. Hier meine Übersetzung der ersten beiden Kommentare aus dem Italienischen.

 

1. "Auch ein solcher Volksglaube sollte wie ein historisches Kulturerbe bewahrt und respektiert werden. Er ist Teil unserer Geschichte. Ich fand den subtil ironischen Ton des Videos geschmacklos. Die Kommentare zum Video sind noch schlimmer. Wer den Volksglauben nicht respektiert, sollte zumindest älteren Menschen Respekt zollen. So ist es zumindest hier im Norden üblich."

 

2. "Von Zeit zu Zeit sehe ich mir dieses Video an... nicht weil ich an die Wirksamkeit des Ritus glaube, sondern ich benutzte es als Zeitmaschine... und ich sehe meine Oma wieder, die schon lange nicht mehr da ist, in ihrem kleinen Dorf im Süden hatte sie den gleichen Porzellanteller mit den Ringen ... der Ritus war nicht der gleiche, aber das Kreuzzeichen machte man auf die gleiche hastige Art... und ich ließ sie machen, weil ihre Gesten und Gebete beruhigend und hypnotisierend waren... bevor sie starb, gab sie den Ritus an meine Mutter weiter, die jetzt leider Alzheimer hat, sodass diese Tradition in unserer Familie aussterben wird... obwohl ich mich gern daran erinnere, wollte ich es nie lernen, aber die alten Traditionen faszinieren mich.."

 

Glaube und Volksglaube sind in Italien nicht nur bei älteren Menschen tief verwurzelt. "Viel Glück!" zu wünschen bringt Unglück, glauben viel Italiener. Stattdessen sagt man: "In bocca al lupo!" (wörtlich übersetzt: im Maul des Wolfes) und antwortet: "Crepi!" (er soll platzen!). Beliebt ist auch " In culo alla ballena! (wörtlich: im Arsche des Wals). Man antwortet:

"Speriamo che non caghi/ scoreggi!" ( hoffen wir, dass er nicht furzt !)

Auch manche Symbole ( ein Kreis aus Ringen) auf den Dächern der Trulli dienen in Apulien zur Abwehr des bösen Blicks. In Süditalien lebten die Hexen und Heilerinnen lange neben und mit Jesus, also mit dem katholischen Glauben. Kirche und Inquisition gelang es hier nicht, den Glauben an ihre Heilkunst auszurotten.

 

Verbreitung des bösen Blicks

 

Von allen Formen des Volksglaubens ist der böse Blick einer der verbreitesten und ältesten. Er stammt wahrscheinlich aus prähistorischer Zeit. Es gibt bereits schriftliche Überlieferungen von den Sumerern und Babyloniern. Auch die alten Griechen glaubten an den bösen Blick. Als wirksamer Schutz galten Abbilder des Emblems der Athena, auf dem ein abgeschnittenes Gorgonenhaupt zu sehen war. Der griechischen Sage nach lebten die Gorgonenschwestern, drei entsetzliche Ungeheuer, im äußersten Westen der Welt. Ein wütendes Gesicht, Schlangen im Haar und Schweinszähne waren Charkteristika der Gorgoninnen, deren Anblick so schrecklich war, dass jeder zu Stein erstarrte, der sie ansah. Nur eine der drei Gorgoninnen war sterblich: Medusa.

 

-> Medusa und die Bannung der Angst in Bildern

 

abitini ( Hemdchen)

 

Zum allgemeinen Schutz vor negativen Kräften fertigten die Heilerinnen auch sogenannte "Hemdchen" an. Das waren meist rechteckige Stoffsäckchen, die während der Taufzeremonie um den Hals der Neugeborenen gehängt oder mit einer Sicherheitsnadel an die Unterwäsche geheftet wurden. In besonders wichtigen Momenten des Lebens sollten die Kleidchen die Träger beschützen. Der Inhalt der Zaubertaschen war eine Mischung aus sakralen und profanen Elementen: Heiligenfiguren, drei Weizenkörner, Salz oder Pfeffer, Oblatenstücke, an ein Kreuz gebundene Nadeln oder Stifte, Seilstücke von einer Kirchenglocke. Die Kombination der Elemente erfolgte nach dem Ermessen der Masciara, die sie herstellte und erfuhr im Laufe der Zeit Variationen. Die Kleider der Erstgeborenen hatten besondere Kräfte. Die Form der Kleider verband sie mit dem organischen Schleier, dem so genannten „abitino“ (Hemd), dessen symbolische Fortsetzung sie darstellten.

 

Diese Information habe ich aus dem Artikel "Magie, um nicht verrückt zu werden" ( La magia… per non impazzire) von der Webseite des

-> Museo Laboratorio della Civiltà Contadina in Matera ( Museum für bäuerliche Zivilisation ). Hier gibt es auch Abbildungen der abitini und einer Heilerin.

 

Apotropaische Gegenstände, Gesten und Bräuche

 

"APOTROPAIC" ist ein aus dem Griechischen αποτρέπειν abgeleitetes Adjektiv, apotrépein = "abwehren" und wird üblicherweise einem Objekt oder einer Person zugeschrieben, das bzw. die in der Lage ist, bösartige Einflüsse zu verhindern, abzuwehren oder aufzuheben.

 

Es gibt apotropäischem Schmuck, apotropäischem Riten oder auch apotropäische Gesten.

Seltene Steine, figürliche Darstellungen von Tieren oder Teilen von Tieren, Monster, Gorgonienmasken, menschliche Gliedmaßen, darunter vor allem das Auge, die Hand, der Phallus sind apotrophe Gegenstände, die in der Antike auch in Gräber gelegt wurden, um die Toten zu verteidigen.

 

Zu apotropäisch Gesten in Süditalien zählen: sich Hörner aufsetzen, wenn man einer bösen Tat ausweichen will , die Geste, mit der Eisen berührt wird, wenn man einen leeren Leichenwagen sieht oder das Berühren der Genitalien, das Männer im Verborgenen tun, um Unglück abzuwehren. Die apotropäischen Masken sind eines der seltenen heidnischen Vermächtnisse, die auch in modernen städtischen Kontexten noch heute zu finden sind. Bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war es üblich, diese an symbolischer Bedeutungen reichen Figuren auf dem Türsturz von Türen oder hinter Fenstern und Balkonen zu platzieren.

 

Ein weiterer, recht weit verbreiteter Brauch war es, Besen in der Nähe von Ausgängen oder Fenstern zu binden oder Vögel an Türpfosten zu nageln, ein sehr alter Ritus römischen Ursprungs, den man auch in der "Metamorphose des Apuleius findet"(...) nehmt sie und nagelt sie an die Türen, damit sie mit ihrem grausamen Tod Buße tun für das Unglück, das ihr unheilvoller Flug den Familien bringt".

 

Die feindlichen Kräfte fanden so eine Barriere, und das Haus wurde zum Schutzraum , dessen Schwelle versiegelt war. Gelänge es einer dieser negativen Kräfte (Hexen, umherwandernde Geister), die Schwelle zu überschreiten, würde sie auf apotropäische "Hindernisse" stoßen, wie Besenfäden, verflochtene Knoten, Messer mit der Klinge nach unten, gesegnete Palmen- und Olivenzweige. Maskenhafte dämonische Fratzengesichter und Schreckbilder finden sich nicht nur in der Architektur, auch -> Masken dienen in vielen Kulturen der Welt dem rituellen Schutz des Trägers.

 

Andere magische Rituale

 

Ein weiteres magisches Ritual, das bei Beziehungs- und Entscheidungsproblemen hilft, ist das Ritual der Heiligen Monika ( il rito della St. Monica). Es findet um Mitternacht an einer Weggabelung statt, weil es dabei helfen soll, den richtigen Weg zu finden. Im Grunde geht es darum, seiner eigenen inneren Stimme mithilfe des Rituals und der Stille besser lauschen zu können. Santa Monica ist die Schutzheilige derjenigen, die ein Familienmitglied verloren haben. Oft wurde Santa Monica angerufen und um Nachricht von Vermissten im Krieg gebeten. In Taranto wird der Ritus der Heiligen Monika etwas anders ausgeführt: man setzt sich zu einer bestimmten Zeit ans Fenster, betet zu einer Heiligen und lauscht den Geräuschen draussen, wenn man wissen möchte, was die Zukunft bringt.

 

-> Artikel zum Ritus der Heiligen Monika (italienisch)

-> Artikel zu weiteren in Bari üblichen Ritualen, die die Zukunft vorhersagen (italienisch)

 

Tarantismus und Tarantella

 

Das berühmteste magische Ritual Apuliens war wohl der Tarantismus, mit dem Besessenheit durch giftige Spinnenbisse geheilt werden sollte. Tarantismus trat als Folge von Spinnenbissen erstmals in der Nähe der apulischen Stadt ->Tarent auf und befiel vor allem Frauen. Typische Symptome waren Übelkeit, obzönes Verhalten, rasende Wut, Apathie, Erschöpfung. 1959 brach der italienischen Religionshistoriker Ernesto de Martino zu einer Forschungsreise nach Apulien auf. Mit ihm reisten ein Psychiater, ein Psychologe, ein Ethnomusikologe und einem Soziologe auf, um ein Phänomen zu untersuchen, das sich als eine Art Besessenheit und Tanzwut äußerte und scheinbar mit exorzistischen Ritualen ausgetrieben wurde. In seinem Aufsatz „Terra del rimorso“ ( „Land der Gewissenspein“) beschreibt de Martino den Tarantismus als mythisch symbolisches Ritual, das mit der Logik der Naturwissenschaft nicht zu verstehen ist und daher oft verteufelt wurde.

 

De Martinos Forschungsreise zeigte, dass der Tarantismus, der seit dem 17. Jahrhundert als Krankheit der ungebildeten, abergläubigen Bevölkerung galt, eine durchaus wirksame Heilbehandlung seelischer Krisen durch Tanz, Musik und Farben war. Der Tarantismus war eine häusliche Kur, bei der Angehörige aus Solidarität mit den Tarantierten häufig mittanzten. Kein Aberglaube und kein Hokuspokus, für De Martino gehorcht der Tarantismus schlicht einer anderen Logik als der der Naturwissenschaften: der Symbollogik des Mythos. Ende des 18. Jahrhundert begann der Kult des Heiligen Paulus die Reste des salentinischen Tarantismus zu zersetzen, weil die Kirche sich von dem Wiederaufkommen heidnisch-orgiastischer Kulte bedroht fühlte.

 

-> Tarantismus: Ernesto de Martino im Land der Gewissensbisse

 

Heute gibt es dieses Ritual nicht mehr, aber die Musik, mit der das Ritual begleitet wurde, lebt in ->Pizzica und Tarantella weiter. Viele magische Rituale wurden und werden von der katholischen Kirche zwar nicht gern gesehen aber toleriert. Während die Welt der Protestanten eine weitgehend entsinnlichte und entzauberte ist, bleibt die die Welt der Katholiken aber bis heute geprägt von quasimagischen, rituellen Handlungen ( Abendmahl, Heiligenverehrung, Prozessionen) oder Dingen ( Reliquien, Altären Ikonen).

 

Bücher von Thomas Hausschild

Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen ( Beiträge zur Ethnomedizin. Band 7). Überarbeitete Neuauflage. Mensch und Leben, Berlin 1982.

Macht und Magie in Italien. Merlin-Verlag, Gifkendorf 2002.

Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008

 

externer Link

-> Zwischen Archaik, Folklore und Gewalt - Über die Funktion von Ritualen (2)

 von Thomas Hauschild

 

 

 

 


Tarantismus: Ernesto de Martino im Land der Gewissensbisse

 

Über wilde Fauen und mythische Monster.

 


Mit Ernesto de Martino auf den Spuren des Tarantismus


 

Zugegeben als ich die Szenen aus dem Film "La Taranta" in Galatina zum ersten mal sah, musste ich spontan an den Horrorfilm der Exorzist denken. Aufgenommen wurde der Film vom italienischen Religionshistoriker Ernesto de Martino während einer Forschungsreise 1959 in Apulien. Er brach mit einem Psychiater, einem Psychologen, einem Ethnomusikologen und einem Soziologen auf, um ein Phänomen zu untersuchen, das sich als eine Art Besessenheit und Tanzwut äußerte und scheinbar mit exorzistischen Ritualen ausgetrieben wurde. Tarantismus trat als Folge von Spinnenbissen erstmals in der Nähe der apulischen Stadt Tarent auf und befiel vor allem Frauen. Typische Symptome waren Übelkeit, obzönes Verhalten, rasende Wut, Apathie, Erschöpfung.

 

De Martinos Forschungsreise zeigte, dass der Tarantismus, der seit dem 17. Jahrhundert als Krankheit der ungebildeten, abergläubigen Bevölkerung galt, eine durchaus wirksame Heilbehandlung seelischer Krisen durch Tanz, Musik und Farben war. Kein Aberglaube und kein Hokuspokus, für De Martino gehorcht der Tarantismus schlicht einer anderen Logik als der der Naturwissenschaften: der Symbollogik des Mythos.

 

Die mythische Tarantel, deren Biss in Wahrheit wenig giftig ist, wurde aus symbolischen Gründen ausgewählt, wegen ihres Aussehens und ihrer Gewohnheiten: sie war haarig und hatte Kieferfühler, schon ihr Anblick erzeugte Gefühlsaufwallungen, sie sprang ihre Opfer an und hauste in dunklen Höhlen. Sie war demnach gut geeignet, den dunkeln Trieben des Unbewußten einen symbolischen Horizont zu verleihen.

 

Die Tarantel stellt ein mystisch-rituelles Symbol dar, in dem ungelöste Konflikte, die im Unbewußten vergraben sind, aufscheinen. Tarantella ist der Tanz der kleinen Spinne, indem diese Konflikte eine Gestaltung erfahren. Die böse Vergangenheit, Gewissenspein oder -bisse werden auf ein mystisches Monster, die Spinne, projiziert und der Körper kämpft gegen dieses Monster an, bis es tot ist.

 

Der rituelle Charakter des Tarantismus bestand nun darin, die für die Betroffenen richtige Musik zu finden, die die schuldige Tarantel solange zum Tanzen bringen würde bis sie müde wird und zermalmt werden kann. Die Taranteln hatten Menschennamen wie Rosina, Peppina, Antonietta. Es gabt Tanz- und Singtaranteln, aber auch traurige und stumme Taranteln, die nur auf Totenklagen und melancholische Gesänge reagierten. Es gab stürmische Taranteln, ausschweifende Taranteln, Schlaftaranteln, die der musikalischen Behandlung widerstanden. Immer waren die Tarantierten Opfer und Heldinnen zugleich, sie identifizierten sich mit der Spinne und besiegten sie.

 

Wurzeln und Symbolreichtum des Tarantismus

Cartapestafigur einer Tänzerin in Lecce
Cartapestafigur einer Tänzerin in Lecce

 

Der Tarantismus hat seine Wurzeln im Mittelalter (ca . 11. Jahrhundert) zur Zeit der Ausbreitung des Islams und dem Gegenstoß des Westens. Apulien wurde ein Ort des Zusammenstoßes unterschiedlicher Kulturen und dann Ausgangszentrum für Einschiffung ins Heilige Land. In dieser Zeit wurden Spinnenbisse zur Massenerscheinung und zwar unter Männern in den christlichen Heeren.

 

Die Tanzepedemien des Mittelalters versuchte die Kirche überall in Europa durch kanonischen Exorzismus zu disziplinieren. In Nordeuropa hatte sie damit durch die Aufpfropfung christlicher Feste Erfolg, in Apulien entstand der mystisch-rituelle Symbolismus der Tarantella, bei dem die Heiligen zunächst etwas abseits blieben. Zuvor hatte das Christentum im Bereich der orgiastischen und maenadischen Kulte bereits Zerstörung angerichtet, schreibt De Martino. Besonders in der weiblichen Welt gab es keine Möglichkeit mehr Bedürfnisse auszudrücken, die in diesen Kulten zum Ausdruck kamen.

Die Blütezeit des Tarantismus war im 16. und 17 Jahrhundert mit viel reicherem Symbolismus als heute: es gab Schwertertänze, Spiegelzauber, Quellen- und Baumszenerien, die paradiesische Landschaften heraufbeschworen. Manche Tarantierte wurden in einem Kahn gelassen, mit einer kleinen Kapelle an Bord, die das Boot im richtigen Rhythmus zum schaukeln zu bringen versuchte, begleitet von Gesängen, die von der Sehnsucht nach dem Meer getragen wurden.

 

Erst seit mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert begann man den Tarantismus mehr und mehr als Aberglauben und Fanatismus der ungebildeten Volksmassen zu sehen. Er galt von nun an als Krankheit der Einbildungskraft und der Unwissenheit. Ende des 18. Jahrhundert begann der Kult des Heiligen Paulus die Reste des salentinischen Tarantismus zu zersetzen, weil die Kirche sich von dem Wiederaufkommen heidnisch-orgiastischer Kulte bedroht fühlte,.

Der Tarantismus war eine häusliche Kur, bei der Angehörige aus Solidarität mit den Tarantierten häufig mittanzten. Er war eine Möglichkeit für Frauen, aus ihrem Alltag auszubrechen, ein Ausbruch, der nicht gleich als Wahnsinn deklariert wurde, sondern von der Dorfgemeinschaft akzeptiert wurde. Erst durch den Kult des Heiligen Paulus in der Kapelle in Galatina, in der Musik und Tanz als reintegrierende Elemente fehlten, blieb vom Tarantismus nichts als die nackte Krise. Das Video zeigt die Agonie des apulischen Tarantismus: die Tarantierten erlebten Schiffbruch, weil es keinen Beschwörungs- und Entspannungsschutz gab wie bei der häuslichen Kur. Der Tarantismus, so de Martinos Schlussfolgerung, war ein mystisch rituelles Symbol zur Bändigung einer Krise und wurde erst unter dem Druck der christlichen Symbolwelt zur Krankheit.

 

Die Chiesa San Paolo in Galatina heute: Tanzen verboten

" Es ist absolut verboten im Inneren dieser Kirche zu tanzen und/oder auf den Altar heraufzuklettern. Jede historische Erinnerung und Wachrufung des Tarantismus ist nur draussen möglich."

 

Und so sieht sie also aus, die Chiesa San Paolo in -> Galatina . Nachdem ich soviel darüber gelesen habe, wollte ich sie mal mit eigenen Augen sehen und hätte sie beinah nicht gefunden, weil sie so unscheinbar ist. In Galatina gibt es auch ein Centro Studi sul Tarantismo e Costumi Salentini ( Nahe der Piazza Dante Allighieri).

 

 

Viele Elemente der Tarantelkur finden heute einen Platz in modernen Therapien, wie Tanz-, Musik-, Kunsttherapie, in der Psychchoanalyse nach C.G. Jung, der davon ausging, dass der archetypische Symbolgehalt von Mythen und Märchen heilsame Kräfte wecken kann oder auch in der Traumatherapie nach Levine, in der es darum geht den "Tiger zu wecken", um im Körper eingefrorene Energie abfließen zu lassen.

Heute ist die Tarantelkur aus Apulien verschwunden, lebt als musikalische Tradition zumindest in der "Notte della Taranta" weiter.

 

->Offizielle Webseite der Notte della Taranta

 

Thomas Hauschild in Lukanien

 

Der deutsche Ethnologe Thomas Hauschild führte in den 80er Jahren Feldforschungen in Lukanien ( heute Teile von  Basilikata, Kalabrien und Apulien ) durch, um die Physiologie, Soziologie und die Poltitik des Heiligenkultes um San Donato, Schutzheiliger der Epileptiker, zu untersuchen. Für Hauschild gehen die in Lukanien beobachteten Symptome der Kranken genauso wie heutige Erschöpfungszustände und Infarkte auf den von Wilhelm Reich beschrieben Urgegensatz des Lebens von Emission ( Kotzen) und Depression zurück.

 

Das Wissen der Lukaner, so Hauschild beschränkt sich in der Krise nicht auf den Stoffwechsel im Menschen, sondern auch auf Tauschbeziehungen zwischen den Menschen. Traditionelle Kulturen haben Erfahrungen entwickelt, wie der Einzelne mit der Gruppe in Kontakt kommt, z.B. durch Geschenke, gemeinsames Essen, Reinigungs- und Trauerrituale, kollektive Trancen oder Prozessionen. Sie entwickelten Rituale, die es bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas gab. Dann wurden Kotzen und Depression zu einer Privatangelegenheit oder in die Irrenhäuser verbannt. (Man denke an die Hysterikerinnen.)

 

Interne Links zum Thema:

 

-> Pizzica, Tarantella und die Band TerraRoss

-> Magische Rituale und böser Blick

 

Literatur:

 

"Der besessene Süden", Ernesto de Martino und das andere Europa, Tumult, 2016.

Ernesto de Martino (1908-1965) war ein italienischer Ethnologe, Geschichtsphilosoph und Religionshistoriker, der mit seinem Denken eine Möglichkeit geschaffen hat, den angeblich zurückgebliebenen Süden in einem anderen Licht zu sehen.  

 

Magie und Macht in Italien. Über Frauenzauber, Kirche und Politik. von Thomas Hauschild, Merlin Verlag, Gifkendorf 2002.

Anfang der 80er Jahre begann Thomas Hauschild seine ethnologische Feldforschung in Ripacandida / Lukanien. Die "magischen" Strukturen sind so stark, dass sie als elementare Form des religiösen Lebens noch bis heute weiter bestehen. Hauschilds ethnologische Studie wird zur Kirchen- und Kulturgeschichte er deckt Machtstrukturen hinter den Praktiken der Heilerinnen und Heiler auf: Die Eliten beziehen ihre Macht vor allem aus den Anstrengungen der Frauen. ( aus dem Klappentext )