Im Fiat Millecento auf Entdeckungstour durch Italien. Foto © Neue Visionen Filmverleih
Wenn sich ein Regisseur von Pasolini´s Reportage "Die lange Strasse aus Sand" und Walter Benjamin´s "Engel der Geschichte" inspiriert auf eine Italienreise begibt, darf man mehr als gespannt sein. "
Im Sommer 1959 bereiste Pier Paolo Pasolini die italienische Küste von Ventimiglia um den Stiefel herum nach Triest, insgesamt über 3.000 km mit dem Auto. "La lunga strada di sabbia” hieß die Artikelreihe, die er im Auftrag der italienischen Illustrierten „Successo“ schrieb.
60 jahre später begibt sich der deutsche Filmemacher Pepe Danquart mit dem Dokumentarfilm VOR MIR DER SÜDEN auf Pasolinis Spuren.
Ein Auto, ein Fiat Millecento, mit dem schon Pasolini die Reise unternahm, steht als symbolisches „Alter Ego“ für die Off -Erzählung aus dem Reisetagebuch Pasolinis. Danquart bezeichnet seinen Film als dokumentarisches Roadmovie mit essayistischem Ansatz, eine Art Reiseformat, das sich ausdrücklich gegen die üblichen Reiseformate im Fernsehen und im Kino wendet, die Teil daran haben, das Begehren zu produzieren, von dem Pasolini warnt.
Danquart war offen für das, was bei der Reise passiert, versuchte aber jeden Tag den Abgleich mit dem Tagebuch Pasolinis zu machen. Mit den Menschen, denen er begegnete, sprach er über Pasolini, über ihre Lebensumstände, über die Situation des Meeres oder die maroden Straßen, ihre Arbeitsbedingungen oder warum sich ausländische Touristen sich kaum nach Kalabrien verirren. Er traf Flüchtlingskinder auf den Straßen von Palermo, den Angestellten eines neuen Resort-Hotels an der Amalfiküste, Campingplatzbetreiber oder Bauarbeiter in Genua. Reisestationen in Apulien waren Gallipoli und Santa Maria di Leuca.
Knapp zwei Monate war er unterwegs und legte fast 8.000 Kilometer zurück. Zelluloidbilder seiner Super-8-Kamera werden als kontrapunk zu den hochaufgelösten Bildern der digitalen Systemkamera montiert. Danquart über seinen Film : "Vereinfacht gesagt, ich war auf der Suche nach einem filmischen Ausdruck für die leeren Versprechungen der industrialisierten Wunschproduktion. So sind die „heutigen“ Bilder, die an den Reisestationen Pasolinis entstanden, nicht nur „dokumentarisch“ im banalen Sinn. Sie lassen durchscheinen, so hoffe ich, was Pasolinis weit geöffneten Augen bis an die Grenzen eines Erblindens sahen, indem er in ihnen ein künftiges europäisches oder sogar globales Problem erblickte.
Was verbindet Dich mit dem italienischen Filmregisseur, Dichter und Publizist Pier Paolo Pasolini?
Schon mein ganzes berufliches Leben als Filmemacher begleitet mich der Autor,
Philosoph und Poet Pier Paolo Pasolini als Vorbild. In meinen Anfängen Mitt e der
1970er Jahre faszinierten mich seine neorealistischen Filme wie ACCATONE,
MAMMA ROMA oder sein Dokumentarfi lm GASTMAHL DER LIEBE, eine
Untersuchung des Sexualverhaltens der Italiener. (..) Seine Werke wurden Meilensteine der Filmgeschichte: ACCATONE, MAMMA ROMA, DECAMERON und DIE 120 TAGE VON SODOM, dieser Spielfilm über das Ausmaß unkontrollierter Machtausübung, der wie ein Dokumentarfilm über die Machthaber in den Vernichtungslagern der Nazis daherkommt. Kaum zu ertragen in seiner Brutalität des Realen. Sein Werk reicht für mich ins Sakrale.
Seine stärksten Filme montieren das kulturelle, prosaische Erbe Europas neu. Dazu
gehören Filmepen wie DAS 1. EVANGELIUM MATT HÄUS (1964), EDIPO
RE – BETT DER GEWALT (1967) oder wie schon erwähnt das anthropologisch
zutiefst pessimistische, in der Bildsprache schockierende Werk DIE 120 TAGE
VON SODOM (1975).
Was hat Dich an Pasolinis Reisereportage von vor 60 Jahren fasziniert?
Wie in einem Brennglas könnte sich am Schicksal dieses Landes eine Logik
durchgesetzt haben, die längst ganz Europa betrifft . Von Migrationsbewegungen
erschütt ert, von Ungleichzeitigkeiten gezeichnet und von unterschiedlichen
Geschwindigkeiten, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gefällen
unterbrochen, steht der Name dieses Kontinents selbst auf dem Spiel. Spardiktate,
technologische Revolutionen und drohende Finanzkrisen lassen nationalistische
Ressentiments wuchern, die an Einfl uss gewinnen. Und wie stets, wenn ein Konsens
zerfällt, werden die Kämpfe um die mediale Deutungshoheit virulenter. Denn wo
Begriff e fehlen, die der Wirklichkeit gewachsen wären, eskaliert der sogenannte
„Fake“, der Wirklichkeiten produziert.Auch jetzt in der sogenannten „Coronakrise“ wird manifest, dass Solidarität
unter den Staaten des europäischen Kontinents noch immer unter dem Einfl uss
von nationalen Kapitalinteressen steht, sie faktisch nicht statt fi ndet. Italien und
Spanien hat es in dieser Krise am schlimmsten getroff en. Unverschuldet. Dort
hat sich das Virus als erstes verbreitet, ist das Gesundheits- und Finanzsystem
zusammengebrochen, die Krankenhäuser kollabierten, es gab die meisten Toten.
Das Land war vorher schon am volkswirtschaft lichen Abgrund. Die Zentrale des
europäischen Kontinents in Brüssel aber bleibt vage, verweigert wirkliche und
direkte Hilfe. Kein Schuldenerlass, keine Eurobonds, das leistet dem Rückzug in die
nationale Abschott ung Vorschub. Wieder fühlen sich die Italiener (und die Spanier,
und die Griechen mit den gestrandeten Flüchtlingen in den völlig überforderten
Lagern) von Europa alleingelassen. Und wie ich meine, tun sie dies zu Recht
Hattest Du noch andere – literarische oder filmische – Referenzen als die
Pasolini-Reisereportage für VOR MIR DER SÜDEN, und wenn ja welche?
In mehreren starken allegorischen Bildern und mit einer drohenden Katastrophe
im Hintergrund kündigte Pasolini Ereignisse an, die dann wirklich geschehen
sind, nicht, weil er – wie schon gesagt – mythische Eigenschaften hatt e, sondern
weil ihm seine Analyse der Industrialisierung in der Moderne ermöglichte, eine
bessere und genauere Darstellung der epochalen Lage als die Fortschrittsschwärmer
zu liefern. Die Gegenüberstellung zwischen Norden und Süden (zwischen
Wohlstandsgesellschaft und der armen marktlosen Landwirtschaft ) war von
Pasolini schon damals als Hauptproblem bezeichnet worden, während er gleichzeitig
den Wohlstandsmythos radikal kritisierte. „Was hat die Industrialisierung getan: sie
hat ein Volk, die Arbeiter, die Niedrigsten aus ihren alten Traditionen herausgerissen,
aus den besonderen, realen, konkreten Werten, und sie auf den Weg gebracht,
Kleinbürger zu werden.“ (Pier Paolo Pasolini)
Dies alles erinnerte mich an Walter Benjamins Beschreibung eines Bildes von Paul
Klee, das „Angelus Novus“ heißt. Ein bekanntes Bild und auch die Interpretation von
Walter Benjamin wird vielen bekannt sein. Dennoch sei sie hier nochmals zitiert:
„Ein Engel ist darauf (dem Bild) dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff , sich
von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund
steht off en und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so
aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kett e von
Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig
Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl
verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm
weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass
der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufh altsam in
die Zukunft , der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Die Kritik und Bestandsaufnahme an den Ergebnissen oder Auswüchsen
der Moderne, die wir Fortschritt nennen, oder Digitalisierung der Welt oder
Globalisierung oder Massentourismus oder ökologischer Kollaps der Welt ist
Gegenstand dieses Dokumentarfilms.
Welche Erlebnisse auf der Reise haben Dich am meisten beeindruckt?
Da ich seit über zehn Jahren zeitweise in Italien lebe, war ich beeindruckt, wie
sehr das Nord-Süd-Gefälle das Land in zwei völlig unterschiedliche Teile trennt.
Theoretisch weiß man das ja. Mailand, Rom, Turin und die Toskana prägen das
Italienbild, prägten auch das meine. Als ich jetzt den Süden entdeckte – Neapel
und die südlichen Provinzen wie Kalabrien, Sizilien, Apulien – war ich fassungslos
überrascht. Das Land dort erinnert eher an Afrika mit seinen ärmsten Ländern und
Provinzen. Industrieruinen prägen das Landschaftsbild, afrikanische Migranten
arbeiten zu Tausenden auf den Tomatenfeldern unter erbärmlichen Bedingungen,
die Dörfer sind verlassen und verfallen, der Tourismus hat es nicht südlicher
geschafft als Rom. Armut und damit einhergehende Arbeitslosigkeit ist überall
sichtbar. Ein anderes Land, das dennoch Italien heißt. Aber nirgendwo in Italien
habe ich so freundliche Menschen getroffen, so offen und gastfreundlich, Menschen,
die sprichwörtlich das letzte Brot mit dir teilen. Auch landschaftlich faszinierend
mit seiner Weite und ohne die industrielle Zerstörung. Beeindruckt hat mich auch
die Tatsache, dass Pasolini als Person und Dichter sowie als Filmemacher noch so
präsent ist in fast allen Köpfen, quer durch die gesellschaftlichen Schichten. Ob
Arbeiter oder Intellektueller, ob Fischer oder Beamter: Jeder hatte eine Erinnerung
an ihn, eine persönliche Geschichte, die er zum Besten gab oder wenigstens einen
Film oder ein Gedicht, das er erinnerte. Während hierzulande kaum einer den
Namen buchstabieren kann.
Auch das Thema Tourismus spielt im Film eine Rolle: Pepe Danquart trifft auf seiner Reise auf verschiedene Formen des heutige Tourismus: Er sieht unzählige Touristen auf Capri und ehemalige Fischer, die heute alle Bootsverleiher sind, um die Touristen zur Blauen Grott e zu bringen. Zu Pasolinis Zeiten, so sagen die Einheimischen, kamen nur vereinzelt sehr elitäre Gäste wie Millionäre oder berühmte Schauspieler. VOR MIR DER SÜDEN zeigt auch Badeorte wie Praia, ein Dorf mit 7.000 Einwohnern, das im Sommer dank neapolitanischer Urlaubsgäste auf 70.000 Einwohner anwächst. Nur im August, wenn die Urlauber da sind, können die Einheimischen mit ihnen Geld verdienen. Sonst stirbt der Ort langsam aus. Ein Krankenhaus gibt es schon lange nicht mehr. Praia steht exemplarisch für den Süden Italiens, wo der Tourismus nur rudimentär existiert.
Ausländische Touristen, so Danquart findet man im Süden kaum, da die vorauszusetzende Infrastruktur dafür in Kalabrien und Apulien grundsätzlich fehlt. " Ich wollte mit meinem Film aber auf dieses Hier und Jetzt verweisen, am Beispiel Italien zeigen, dass individuelles Reisen heute kaum noch möglich ist, es Neues nicht mehr zu entdecken gibt, dass wir alle einer mächtigen (Tourismus)Industrie unterworfen sind, vor der es kein Entrinnen gibt. Nicht an den Stränden Italiens, nicht in den Alpen unter Schnee oder an den Sandstränden der Karibik. "
( Da muss ich aber widersprechen. Individuelles Reisen ist in Apulien schon noch möglich.)
Inzwischen habe ich den Film selber gesehen, der ein Jahr vor Corona gedreht wurde. Der Film fokussiert die damals brennenden Themen: Angst vor Populismus ( Salvini), Immigration, Massentourismus und Verarmung. Heute im Januar 2022 scheinen diese Probleme alle von Corona verdrängt und ich habe mich dabei ertappt, mich nach 2019 zurückzusehnen.
Am Ende von "Vor mir der Süden" fragt Adriana Asti, die in Pasolinis "Accatone" mitspielte: Warum schweigen die Künstler? Gibt es nichts zu sagen?
Diese Frage würde ich gern an die Künstler von heute weitergeben. Warum schweigt ihr? Gibt es nichts zu sagen?
-> Mehr zu Pasolini und dem Verschwinden der Glühwürmchen
-> Kino aus Apulien und dem Mezzogiorno