Mario Erdheim nähert sich dem Thema Herrschaft, Gewalt und Angst aus ethnopsychoanalytischer Perspektive. Hier einige Auszüge aus dem letzten Kapitel seines gleichnamigen Buches.
Ausgangsfrage dieses Kapitels ist: Wie reagiert der Mensch auf Gewalt ?
Der Mensch kann der Angst nachgeben und flüchten. Er kann sich ihr entgegenstellen und kämpfen oder nachgeben und sich unterordnen. Er kann nachgeben und auf Rache sinnen oder so tun, als ob er nachgibt und versuchen Gewalt zu sabotieren. Er kann sich unterwerfen und sich mit dem Angreifer identifizieren.
In dem Moment, wo sich mit der Staatenbildung eine Zentralgewalt herausbildete, wurde die Möglichkeit zur Flucht immer weniger realisierbar. Wo Flucht nicht möglich ist, wird Gewalt Aggressionen wecken. Wo Herrschaft mit Aggressionen, Gegengewalt, Rache oder Sabotage rechen muss, wird Innenpolitik zur Kunst, diese Aggressionen zu neutralisieren , z.B. durch die Bereitstellung von Ersatzbefriedigung. Aus psychoanalytischer Sicht ist der Konflikt dadurch nicht gelöst, sondern wird nur verdrängt und arbeitet im Unbewussten weiter.
Abwehrmechanismen sichern das psychische Überleben, indem sie Gewalt ins Unbewusste verdrängen. Bei diesem Verdrängungsprozesse werden latente Konflikte aus der Kindheit reaktiviert . Je weniger es gelungen ist diese Grundkonflikte der Persönlichkeit zu lösen und je größer die Gewaltausübung der Herrschenden ( also die Aggression , die die Beherrschten spüren, aber nicht äussern dürfen), desto primitiver sind die Abwehrformen und desto tiefer dringt Herrschaft ins Unbewusste der Psyche ein. Kommt es zu keiner Lösung des Konflikts, verlieren die Abwehrmechanismen mit der Zeit ihre Wirksamkeit. Damit es überhaupt zu einer Abwehrformation kommt, muss ein Warn- oder Angstsignal die Abwehr mobilisieren.
Zu den primären Abwehrmechanismen, also der Verdrängung der Aggression, gehört zunächst die Ersatzbefriedigung oder zumindest die Hoffnung darauf. Erdheim bezeichnet Abwehrformen, in denen Ersatzbefriedigung möglich ist als primäre Abwehrformen. Beispiele für Ersatzbefriedigung waren nach Erdheim in den vorindustriellen Gesellschaften der sakrale Raum und Feste wie zum Beispiele der Karneval, bei dem die gesellschaftliche Ordnung für einen begrenzten Zeitraum aufgehoben oder umgekehrt wurde. Foucault zählte auch den Besuch von öffentlichen Hinrichtungen zu den Ersatzbefriedigungen, weil der Verurteilte vor der Vollstreckung noch ein letztes mal auf die Herrscher schimpfen durfte und alles sagen durfte, was sonst verboten war.
Als Ersatzbefriedigung des industriellen Zeitalters sieht Erdheim insbesondere die entfremdete Arbeit. Die Wiederkehr der verdrängten Aggression äußert sich in Arbeitswut, einer Arbeitswut, die sich nur auf Leistung bezieht, egal wie sinnlos die Tätigkeit ist. Die Sicherheit und soziale Anerkennung wird gewahrt durch Fleiß und Gehorsam bis hin zur Unterwürfigkeit.
Außer oder neben der Ersatzbefriedigung gibt es die Konfliktvermeidungsstrategie durch Ich- Einschränkung. Durch übertriebene Unterwürfigkeit wird versucht die Herrschaft gnädig zu stimmen in der Hoffnung, von ihr beschützt und verteidigt zu werden. Dazu gehört auch der Versuch, Mitleid zu erwecken ( Selbstverkleinerung) sowie seine Nützlichkeit und seinen Fleiß hervorzuheben.
In kolonialisierten Völkern, die sich noch nicht so sehr mit dem Wert der Arbeit identifizieren, werden Fleiß und Unterwürfigkeit von den Beherrschten oft nur vorgetäuscht. Ersatzbefriedigungen sind Lügen, Stehlen und Faulenzen ( Sabotage ). In dieser Vermeidungsstrategie gegen die innere Kolonialisierung liegt ein gewisses Mass an Widerstand, das aber häufig einhergeht mit einer Entpolitisierung des Alltags, weil das „Ich“ es aufgegeben hat, den Alltag selber zu gestalten. Die Abwehrform dringt aber nicht so tief in die Persönlichkeit ein.
Wenn Ich-Einschränkung und Ersatzbefriedigung nicht mehr ausreichen, weil der Druck der Herrschaft wächst, treten andere Abwehrformen auf.
Sekundäre Abwehrformen der Beherrschten sind diejenigen, bei denen der Verzicht auf Auseinandersetzung mit Herrschaft zu einer Charaktereigenschaft wird. Dazu gehören Reaktionsbildung, Isolierung, Charakterbildung und komplexe Abwehrformen wie Rationalisierung, Intellektualisierung und Verneinung. Nach der psychoanalytischen Theorie ist die Reaktionsbildung die Verdrängung eines inakzeptablen Gefühls durch eine Umkehr in sein Gegenteil. Werden Reaktionsbildungen Teil des Charakters entsteht der autoritäre Charakter ( Adorno, Fromm). Intellektualisierung bedeutet in der Psychoanalyse die Überbetonung des Verstandes. Dabei werden Emotionen und Gefühle auf Logik und Rationalität reduziert und emotionale Konflikte kontrolliert oder minimiert .In der Psychopathologie gilt die Rationalisierung als der bevorzugte Abwehrmechanismus bei der antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung. Der Therapeut John Bradshaw schrieb 1988: „Durch Generalisieren und Universalisieren sorgt man dafür, dass die Kategorien so weit und abstrakt gefasst sind, dass man den Kontakt zur konkreten, sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit verliert.“ Er verweist darauf, dass die Intellektualisierung häufig der Vermeidung von Scham dient.
Bei sekundären Abwehrformen kommt es zu dem Paradox, dass je mehr die innere, unbewusste Abwehr wächst, desto mehr kann Herrschaft ihren Machtbereich ausdehnen. Das funktioniert aber nur so lang, wie Auflehnung mit einem Gefühl der Ohnmacht gekoppelt ist.
Abwehrformen gegen Aggressionen werden sowohl von den Herrschenden als auch den Beherrschten entwickelt. Die Abwehrformen der Herrschenden bestimmen die Art und Weise wie sich Herrschaft dem Volk präsentiert, die soziale Distanz, die geschaffen werden muss, um vor Aggressionen der Untertanen zu schützen und die Erniedrigung der Untertanen, die um so stärker sein muss, je stärker der Wunsch ist, ihn zu stürzen. Rationalisierung und Intellektualisierung tragen dazu bei dass die Autorität natürlich und notwendig erscheint. Die Macht des guten Herrscher musste als gottgegeben erscheinen und/ oder den Eindruck erwecken, dass sie nichts für sich und alles für das Volk will.
Wenn Herrschaft ihre Kontrolle immer weiter ausdehnt und immer neue Konflikte provoziert reichen sekundäre Abwehrformen nicht mehr aus. Die Angst des Individuums wächst und alles drängt zum Handeln, aber die Angst ist so groß, dass nichts unternommen werden kann. Die Beherrschten (und vielleicht auch die Herrschenden?) entwickeln regressive Abwehrformen. Bei regressiven Abwehrformen kommt es zu einem Kurzschluss zwischen innerer und äußerer Realität, Innen und außen werden ununterscheidbar und die Aggression kann nicht mehr lokalisiert werden. Wenn innerer und äußerer Verfolger identisch werden, kann man sich nur durch einen Totstellreflex schützen. In totalitären Gesellschaften bedeutet bereits ein bewusstes zu seiner Angst stehen Auflehnung, da Angst als Kritik an der Herrschaft gilt. Die regressive Abwehr macht Auflehnung unmöglich, es sei denn man betrachtet die Psychose als Auflehnung.
Charlotte Beradt hat in ihrem Buch „Das 3. Reich des Traums“ Träume aufgezeichnet , die das Eindringen von Herrschaft ins Individuum belegen. Sie sammelte Träume, die zwischen 1933 und 1939 geträumt wurden, und befragte dazu Menschen ihrer Umgebung. Erdheim zitiert aus diesem Buch insbesondere die Träume einer dreißigjährigen Frau 1933:
„ Eine Tafel ist als Ersatz für die verbotenen Straßenschilder an jeder Ecke aufgestellt und verkündet in weißen Buchstaben auf schwarzem Grund zwanzig Worte, die auszusprechen dem Volk verboten ist. Als erstes das Wort Lord – das habe ich wohl aus Vorsicht auf englisch nicht auf deutsch geträumt. Die nachfolgenden habe ich vergessen oder wahrscheinlich überhaupt nicht geträumt, außer dem letzten : das war ich. "
Die gleiche Frau träumt sie sitzt in ihrer Lieblingsoper der Zauberflöte, als folgendes passiert. Nach der Stelle „Das ist der Teufel sicherlich“ kommt ein Trupp Polizei herein marschiert, laut knallende Schritte, direkt auf mich zu. Sie haben durch eine Maschine festgestellt, dass ich beim „Teufel“ an Hitler gedacht habe. (..) ..der alte Herr in der Nebenloge sieht fein und gütig aus, aber als ich ihm in die Augen sehen will, spuckt er mich an.“
Ein weiterer Traum dieser Frau: „Ich werde mich im Blei verstecken. Zunge ist schon Blei, Blei fest geschlossen. Angst wird vergehen, wenn ich ganz aus Blei bin.“
Die argentinischen Psychoanalytiker Amigorena und Vignar haben totalitäre System beschrieben als Systeme, die sich nicht damit begnügen Repressionen in der äußeren Realität auszuüben, sondern als eine Macht die sich im Inneren einprägt und als tyrannische Instanz lautlos wirkt. Es ist die archaischste und verschleiertste Form der Macht.
Die Verleugnung der Realität ist für Erdheim das letzte Stadium der Herrschaft, weil mit dem Verlust der Realitätskontrolle, eine Reproduktion von Gesellschaft unmöglich wird. Sowohl der Widerstand als auch die Möglichkeit, einen Konsens zu finden werden unmöglich. Der Konflikt ist nicht gelöst. Was übrig bleibt ist richtungslose Aggression.
"Entfremdung als unsere Gegenwärtige Bestimmung ist nur möglich durch Gewaltanwendung von Menschen gegenüber Menschen. Was wir „normal“ nennen ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung. Sie ist radikal der Struktur des Seins entfremdet. Es gibt Formen der Entfremdung, die den statistisch „normalen„ Formen der Entfremdung ziemlich fremd sind. Die normal entfremdete Person hält man für gesund, weil sie mehr oder weniger wie jedermann handelt. Formen der Entfremdung außerhalb der Entfremdungsnorm werden von der normalen Mehrheit mit dem Etikett wider- oder wahnsinnig versehen. Der Zustand der Entfremdung, des Schlafens, des Nicht-Bewusst-Seins, des Nicht-bei-Sinnen-Seins ist der Zustand des normalen Menschen. Die Gesellschaft schätzt ihre normalen Menschen. Sie erzieht ihre Kinder dazu, sich selbst zu verlieren, absurd zu werden und so normal zu sein. Normale Menschen haben in den letzten 50 Jahren vielleicht 100 Millionen normale Menschen getötet." ( Robert D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung )
Laing beschreibt eine schizophrene Episode seines Patienten als den Versuch, unlösbare gegensätzliche soziale Kräfte ( double bind), die ihn kontrollieren unter seine Kontrolle zu bringen, indem er Inneres nach Aussen projiziert und Äußeres nach Innen introjiziert. Der Schizophrene versucht sich mit allen verfügbaren Mitteln vor der Destruktion zu schützen. Etymologie des Wortes: schiz = gebrochen, phrenos = Seele oder Herz. Der Schizophrene ist jemand , dem das Herz gebrochen wurde.