Die Landschaft der Alta Murgia mit ihren tiefen Schluchten und die Städte Altamura oder Gravina in Puglia - sie bilden den archaischen, rauhen, touristisch kaum erschlossenen Teil Apuliens, den nicht nur viele Filmemacher lieben.
Sanftes, liebliches Apulien oder lieber archaisch, rauh und wild? Wer sich nach Gravina in Puglia verirrt, wird vielleicht von einem Gefühl heimgesucht, das nur diese uralten Felsenstädte auslösen. Alle Eile, aller Stress erscheint plötzlich albern, wenn man sich konfrontiert sieht mit dem was im Englischen Die Tiefe Zeit genannt wird.
"Mit der geologischen Zeit reicht die Erdgeschichte schwindelerregend tief von der Gegenwart hinab in die Vergangenheit. Geologische Zeit misst sich in Einheiten, die uns kurzlebige Menschen Demut lehren: Epochen und Ionen anstelle von Minuten und Jahren. Geologische Zeit steckt in Steinen, im Eis, Stalaktiten, Ablagerungen auf dem Meeresboden." So beschriebt Robert MacFarlane die geologische Zeit ( die tiefe Zeit ).
Das klingt etwas hochtrabend, aber ich kenne dieses Gefühl der Demut von einem Besuch im nahegelegenen Matera. Schwindelig wird mir auf der berühmten Brücke, der Ponte Viadotto - Aquedotto, aber aus anderen Gründen: Es regnet und es weht ein stürmischer Wind. Immerhin ist der Regen an diesem Julitag warm, aber wir sind nach einem kurzen Rundgang komplett durchnässt. Die Brücke Ponte Viadotto - Aquedotto Madonna della Stella ist 37 m hoch, 90 m lang und 5,5 m breit und wurde gebaut, um die Überquerung des Crapo (der antike Name des Wildbachs Gravina) zu ermöglichen und den Gläubigen den Zugang zur kleinen Kirche der Madonna della Stella zu ermöglichen.
Gravina in Puglia könnte so etwas sein wie die kleine Schwester von Matera. Es ist lange nicht so berühmt, aber ähnlich beliebt als Drehort für Filme und fast so alt wie Matera. Auch die Lage an einer tiefen Schlucht erinnert an Matera. Dieser Lage verdankt die Stadt auch ihren Namen. Gravina bedeutet "Schlucht". Ein Teil der Stadt erstreckt sich an den Ufern eines tiefen Canyons, der von einem kleinen Fluss, dem Wildbach Gravina, in den Kalkfelsen gegraben wurde und von dem die berühmten Schluchten der Murgia ihren Namen haben, ein Gebiet, in dem es viele Karsthöhlen und Felsenkirchen gibt.
Gravina kann wie Matera auf eine sehr alte Geschichte zurückblicken. Das Gebiet ist seit dem Altpaläolithikum besiedelt. Die wichtigsten Überreste stammen aus dem Neolithikum seit 5950 vor Christus. (Casa S. Paolo und Ciccotto). Zuerst von den Griechen besiedelt, dann von Rom besetzt, dann von den Westgoten und Vandalen. Die Bevölkerung zerstörte auf der Flucht vor den Besatzern das bewohnte Zentrum auf dem Hügel von Botromagno und zog in die darunter liegende Schlucht, wo sie zu den bestehenden Höhlen weitere Behausungen hinzufügte.
Die Felsenkirche auf der gegenüberliegenden Seite der Gravina ( der kleine spitze Turm auf dem Foto ganz oben) wird so genannt, weil im Inneren ein Fresko der Madonna mit Kind mit einem Stern auf der Stirn gefunden wurde. Die Kirche wurde ursprünglich als vorchristliche Kultstätte genutzt, wie die an den Wänden geschnitzten Tierfiguren bezeugen. Das ist der Komplex, der wahrscheinlich einem heidnischen Ahnenkult der Fruchtbarkeit gewidmet war, der später vom Marienkult der christlichen Kirche überlagert werden sollte.
Mit dieser Kirche ist eine Legende verbunden, die besagt, dass unfruchtbare Frauen, die das Heiligtum besuchten, dann die Gnade empfingen, ein Kind zu gebären. Diese Gnade, so die Legende, war auf die orgiastischen Riten zurückzuführen, die hier praktiziert wurden und die von Monsignore Cavalieri 1693 abgeschafft wurden, der anordnete, dass alle Kirchen bei Einbruch der Nacht geschlossen werden sollen, besonders die Kirche der Madonna della Stella. So wurden die antiken Bräuche, bei denen Männer und Frauen sich nachts promiskuitiv mit rhythmischen Klängen und Gesängen sich in der Kirche trafen, verboten aber nicht ganz überwunden. (Diözesanarchiv von Gravina, Synode, 1693). Eine Verbindung zum Fruchtbarkeitskult ist der bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitete Brauch, in den so genannten "Bilanzen" das gute Ergebnis der Ernte durch reichliche Trinkopfer auf dem Plateau über der Kirche zu feiern. Eine deutliche Spur dieser Versöhnungsriten ist der Fund von Weinkrügen aus Keramik aus dem 17. - 20.Jahrhundert in der Zisterne im Inneren der Höhle.
Informationen zu Besichtigungen der Höhlenkirchen -> Seite für Tourismus Gravina
Weitere Felsenkirchen (chiese rupestri) innerhalb der Altstadt sind San Michele delle Grotte, Chiesa rupestre di San Basilio und Chiesa rupestre di Sant’Andrea. San Michele delle Grotte wurde zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert aus dem Tuffstein gehauen. Die Kirche ist fünfschiffig mit drei Altären. Eintrittskarten und Führung erhält man über die Touristeninfo an der Piazza Benedetto XIII, 17.
-> Fotos und Infos zu einer Minitour ( ca. 2,5 Stunden / 12 Euro)
Führungen werden auch angeboten von -> gravina sottoterranea ( das unterirdische Gravina, sieht sehr eindrucksvoll aus)
Unser Spaziergang durch Gravina fällt weitgehend ins Wasser. Trotz böigem Wind haben wir uns immerhin noch bis auf das Plateau hoch gekämpft und hier haben wir einen guten Ausblick auf die Stadt und die Concattedrale di Santa Maria Assunta.
Letztes Jahr war die Brücke also Filmset für James Bond "No time to die". Bond stürzt sich in einer Szene des Films hier in die Tiefe. Deutschen Zuschauern ist Gravina vielleicht schon von dem
Film "Maria ihm schmeckts nicht" bekannt. Im Film heißt der Ort aber Campobello. Weniger bekannt ist " Il bene mio" des apulischen Regisseurs Pippo Mezzapesa. Schauplatz des Films "Il bene mio"
ist die fiktive Stadt Provvidenza (Providenza heißt Vorsehung), ein Geisterdorf, das von einem Erdbeben zerstört wurde und nur noch von einem einzigen Einwohner bewohnt wird. "Die Inspiration
für den Film bezog ich aus der Leidenschaft für gespenstische Orte, für Orte, die verlassen wurden nach Naturkatastrophen oder aus anderen Gründen. Gedreht wurde in Apice in Kampanien und Gravina
in Puglia. Obwohl Gravina keine Geisterstadt ist, gibt es auch hier viele verlassene Ecken." ( -> mehr zum Film und anderen Filmen aus
Apulien ) Auch der Film des Komikers Checco Zalone "Tolo Tolo", der zu Beginn des Jahres ein Kassenschlager in Italien war, ist teilweise in Gravina gedreht worden. Hier auf dem Platz
soll eine der Anfangsszenen spielen, in der die Hauptfigur eine Sushibar eröffnet.
Die Liste aller Filme, die ( teilweise ) in Gravina gedreht wurden ist sehr lang. Weitere Filme, die 2019 hier gedreht wurden sind:
- "Pinocchio" von Matteo Garrone;
- Netflix Serie "L’Ultimo Paradiso" mit Riccardo Scamarcio
- "The Last Planet" von Terrence Malick
Wir werfen noch einen flüchtigen Blick von oben auf eine Gasse der Altstadt von Gravina, aber für einen Spaziergang ist es einfach zu nass.
Weil der Regen nicht aufhört, suchen wir Unterschlupf in einer Kirche, die ich von innen sehr schön finde, weil sie so spartanisch eingerichtet ist. Die Absperrungen vor den Bänken sind Corona- Massnahmen und am Eingang wird meine Temperatur gemessen. Der Legende nach geht die Gründung des Franziskanerordens, dem die Kirche gehört, auf den heiligen Franziskus auf dem Weg durch Gravina zurück. Die Kirche entstand wahrscheinlich während der Amtszeit des Bischofs Cava. Die Kirche wurde nach dem Erdbeben (1456) größer wieder aufgebaut und dem heiligen Franziskus geweiht; weitere Renovierungen fanden im 17. und 18. Jahrhundert statt. In dem Wunsch nach einem größeren Kloster wurde die Kirche vollständig umgebaut (1714-15), mit zwei prächtigen Kreuzgängen, gefolgt von der Weihe der Kirche (1793) durch Bischof Michele de Angelis.
Manchmal ist es etwas verwirrend, dass einige Bauwerke mehrere Bezeichnungen haben.
Die Hauptsehenswürdigkeit von Gravina ist für viele die Basilica Cattedrale Santa Maria Assunta auch Concattedrale oder Dom von Gravina – il Duomo di Gravina. Die Kirche wurde im 11. Jahrhundert erbaut, im 15. Jahrhundert durch ein Feuer und einige Jahre später ein Erdbeben zerstört. Es blieben einige byzantinische Kapitelle und Fresken, die in die neue Kirche integriert wurden. Die Architektur ist spätromanisch, Renaissance mit Barock-Elementen. In der Kirche befindet sich eine Reliquie von Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury von 1162 bis 1170.
Vom Platz vor dem Dom, der Piazza Papa Benedetto XIII, soll man normalerweise einen wunderbaren Ausblick auf die Ponte Viadotto, die Schlucht und auf einige Höhlenkirchen haben, heute verschwindet alles ein bißchen im Dunst.
Demut wird heute oft negativ konnotiert als Unterwürfigkeit. Es wird aber auch verstanden als Bescheidenheit und Hingabe. Nach Fromm (Die Kunst des Liebens) ist Demut eine Voraussetzung der Überwindung des eigenen Narzismus. Der Psychologe C.G. Jung erwähnt Demut im Kontext der Individuation: „Wahrlich, der Weg führt durch den Gekreuzigten. Das heißt durch den, dem es nicht zu wenig war, sein eigenes Leben zu leben und der darum erhöht wurde zur Herrlichkeit. Nicht lehrte er Wissbares und Wissenswertes, sondern er lebte es. Es ist nicht zu sagen, wie groß die Demut dessen sein muss, der es auf sich nimmt, sein eigenes Leben zu leben. Das klingt schon fast religiös und dazu passt, dass in Gravina zu Ostern auch Passionsspiele stattfinden.
Außerhalb von Gravina in Puglia befindet sich die Ruine einer Burg des Stauferkönigs Friedrich II. Sie liegt auf einem Hügel nördlich vom Bahnhof. Das Castello wurde zwischen 1223 und 1231 auf der Spitze eines Hügels nördlich der Zitadelle erbaut.
Die Fiera di San Giorgio (Messe und Jahrmarkt) fand im April 2019 zum 725 Mal statt. Sie ist damit die älteste Messe Italiens. Sie findet von 20. bis 25. April auf einem eigenen Messegelände statt in der Via Spinazzola. Es werden handwerkliche Produkte ausgestellt, zudem Wein und Lebensmittel. Außerdem gibt es eine mittelalterliche historische Nachstellung, die an die allererste Messe von 1294 erinnert.
Eine lokale Spezialität in Gravina in Puglia ist der Pallone, ein runder Käse mit harter Schale, der meist jung genossen wird. Er ist in der Produktion dem Caciocavallo ähnlich.
Es gibt auch einen DOC Wein namens „Gravina“. Gravina gibt es als Rotwein, Weißwein und Rosé, auch als Schaumwein.
Bekannt ist Gravina auch für das sogenannte Fischietto Cola Cola, eine aus Terrakotta gefertigte Figur, die ein Huhn darstellt und in den Farben rot, Gelb und Blau bemalt ist. Das Fischietto Cola Cola kann als Pfeife benutzt werden und wird von einigen lokalen Kunsthandwerkern hergestellt ( zu sehen auf dem kleinen Video, das ich gedreht habe am Ortseingang von Gravina).
Gravina in Puglia ist der Hauptsitz des Parco Nazionale dell’Alta Murgia. Die Karstlandschaft Dolina delle Murge, die Lamalunga Grotte nahe Altamura sowie die De Lucia Schlucht sind seit 2006 Anwärter für die Aufnahme in die Liste des UNESCO Weltkulturerbe.
-> webseite Nationalpark Altamurga
Museo della Fondazione Ettore Pomarici Santomas
Das Museum der Stiftung "Ettore Pomarici Santomasi" zeigt unter anderem die archäologische Dauerausstellung "Aristokratie und Mythos". Sie zeigt die wertvollsten Funde, die bei Ausgrabungen in den verschiedenen archäologischen Zonen der Stadt, insbesondere in Botromagno, gemacht wurden. Anhand der Exponate, die vom 7. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. datierbar sind, kann man in den kleinen proto-korinthischen und korinthischen Vasen die ersten Anzeichen des Kontakts mit der griechischen Welt und die ersten Anzeichen sozialer Unterscheidungen lesen: Fibeln, Bernstein, Elfenbein und silberne Ornamente.
-> webseite Fondazione Ettore Pomarici Santomas
Museo Laboratorio della Civiltà Contadina e degli Antichi Mestieri Gravina in Puglia
Sammlung von Arbeitsgeräten und Gegenständen des täglichen Lebens, die die ländliche Realität und das landwirtschaftliche Gebiet der Gravina in Apulien widerspiegeln. Das Zeitalter bezüglich der Verwendung solcher Gegenstände geht auf einen Zeitraum zwischen 1700 und 1970 zurück. Piazza San Domenico.
Museo Capitolare di Arte Sacra
Die Sammlung des Museums besteht aus Werken sakraler Kunst aus der Zeit zwischen dem 11. und 20. Jahrhundert. Im Gewandsaal sind zu sehen: Meisterwerke, die mit barocken Motiven bestickt sind und sich mit Renaissance- und klassischen Verzierungen abwechseln. Die Silberkammer beherbergt Kelche und Reliquienschreine aus dem 15. bis 18. Jahrhundert, darunter das Bildnis von San Filippo Neri und die Stauroteca, Protagonist der Prozession des Heiligen Holzes, die jeden Karfreitag stattfindet. Piazza Benedetto XIII
Museo Civico Archeologico
Archäologische Artefakte, die vom 8. Jahrhundert v. Chr. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. datiert werden können. Eine Rekonstruktion (in Originalgröße) von 2 Gräbern von Peuceti-Kriegern mit Waffen und Einrichtungsgegenständen; Protoapuli-Vasen mit Darstellungen dionysischer Szenen; Rekonstruktion eines hypogäischen Grabes in Grotticella. Piazza Benedetto XIII.